Schreib-Werkzeuge, die unter die Haut gehen

Der Erzähler, der Erzähler, der Erzähler. So wichtig wie Kamera, Filmmusik und Regisseur zusammen. Die Stimme, die uns eine Geschichte zugänglich macht. Aber auch eine Figur hat ihre eigene Stimme innerhalb einer Erzählung. Und es gibt Methoden, diese beiden Stimmen fast zu einer verschmelzen zu lassen. Mit diesen Werkzeugen kannst du deinen Figuren so richtig unter die Haut gehen – und nein, es geht totzdem nicht um Horror-Literatur! 😉

 

Erlebte Rede und Innerer Monolog

Die „Rede“ des Erzählers ist immer Vermittlung zwischen Geschehen und Leser und zwischen Leser und Figuren. Reine Figurenrede gibt es nur in den Dialogen. Unmittelbarkeit ist in der erzählerischen Literatur eine Illusion. Aber es gibt einige Redeformen, die dazu dienen, der Unmittelbarkeit so nahe wie möglich zu kommen und den Abgrund zwischen Leser und Figur zu überwinden.

 

Bewusstseinsstrom: Wie es dazu kam

Ende des 19. /Anfang des 20. Jahrhunderts versuchten Romanciers, den Erzähler als Vermittlerfigur soweit wie möglich zu eliminieren. Eine Möglichkeit war, weg von dem urteilenden Erzähler und hin zu einem neutralen Erzähler zu gehen. Eine „Reflektionsfigur“ musste her, die das Geschehen wiedergibt, ohne sich als eine eigene, erkenn- und charakterisierbare Stimme zu manifestieren. Dieser Erzähler sollte nur noch ein Medium sein, sonst nichts.

Manchen Autoren ging das noch nicht weit genug. Sie wollten direkt wiedergeben können, was in den Figuren vorging, ohne dass diese es laut aussprechen oder der Erzähler es in seine eigenen Worte fassen musste.

Die noch junge Wissenschaft der Psychologie legte offen, dass Menschen nicht strukturiert und geradlinig denken, sondern chaotisch und assoziativ. Erinnerungen und Wahrnehmungen mischen sich mit bewussten Überlegungen und unbewussten Sinneseindrücken. Um dies einzufangen, entwickelten moderne Autoren wie Virginia Woolf, James Joyce und Alexander Döblin den sogenannten Bewusstseinsstrom.

 

Bewusstseinsstrom: Was darunter zu verstehen ist

Der Autor versucht, den Strom von Wahrnehmung, Gedanken und Gefühlen zu imitieren und dem Leser direkten Zugang zum Bewusstsein einer Figur zu geben. Ein sehr berühmtes Beispiel ist „Berlin Alexanderplatz“ von Alexander Döblin. Der Protagonist Franz Biberkopf  ist gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden, steigt in die Straßenbahn ein und wird mit dem Berlin der 1920er konfrontiert, das ihn völlig überwältigt:

Er  schüttelte sich, schluckte. Er trat sich auf den Fuß.  Dann nahm er einen Anlauf und saß in der Elektrischen. Mitten unter den Leuten. Los. Das war zuerst, als wenn man beim  Zahnarzt sitzt, der eine Wurzel mit der Zange gepackt hat und zieht, der Schmerz wächst, der Kopf will platzen. Er drehte den Kopf zurück nach der roten Mauer, aber die Elektrische sauste mit ihm auf den Schienen weg, dann stand nur noch sein Kopf in der Richtung des Gefängnisses. Der Wagen machte eine Biegung, Bäume, Häuser traten dazwischen. Lebhafte Straßen tauchten auf, die Seestraße, Leute  stiegen  ein  und  aus. In  ihm  schrie  es  entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los. Seine Nasenspitze vereiste, über seine Backe schwirrte es.  »Zwölf  Uhr Mittagszeitung«,  »B. Z.«, »Die neuste Illustrirte«,  »Die Funkstunde neu«,  »Noch jemand zugestiegen?«. (Alexander Döblin, Berlin Alexanderplatz, erschienen 1929, S. Fischer Verlag)

 

Bewusstseinstrom: Wahrnehmungsfetzen

Im Extremfall kann Bewusstseinsstrom nur noch aus einzelnen Wahrnehmungsfetzen bestehen, Grammatik und Satzstruktur lösen sich auf, Punkt und Komma gibt ist nicht mehr und Halbsätze fließen ohne erkennbaren Übergang ineinander. Es gibt aber auch weniger chaotische Formen des Bewusstseinsstroms, die klassische erzählerische Strukturen beibehalten. So nimmt etwa Franz Biberkopf die Stadt wahr:

Was war das alles. Schuhgeschäfte, Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen. Die Menschen müssen doch Schuhe haben, wenn sie so viel rumlaufen, wir hatten ja auch eine Schusterei, wollen das mal festhalten. Hundert blanke Scheiben, laß die doch blitzern, die werden dir doch nicht bange machen, kannst sie ja kaputt schlagen, was ist denn mit die, sind eben blankgeputzt. Man riß das Pflaster am Rosenthaler Platz auf, er ging zwischen den andern auf Holzbohlen. Man mischt sich unter die andern, da vergeht alles, dann merkst  du nichts, Kerl.  Figuren  standen  in  den  Schaufenstern in Anzügen, Mänteln, mit Röcken, mit Strümpfen und Schuhen. Draußen  bewegte  sich alles, aber – dahinter – war nichts! Es – lebte – nicht! (Alexander Döblin, Berlin Alexanderplatz, erschienen 1929, S. Fischer Verlag)

 

Erlebte Rede

Die erlebte Rede ist die „sanfteste“ Form des Bewusstseinsstroms. Sie arbeitet mit Mitteln des klassischen Erzählers. Es handelt sich um eine Verschmelzung von Erzählerrede und Figurenrede. Gedanken, Gefühle und andere Bewusstseinsinhalte der Figur werden direkt im Erzähltext wiedergegeben, ohne als wörtliche Rede (Anführungszeichen) oder indirekte Rede (Konjunktiv) angezeigt zu werden. Einleitungen wie „dachte sie“ fehlen oft ganz oder werden zumindest sehr spärlich eingesetzt.

Die erlebte Rede bleibt aber in der dritten Person gehalten, ist also immer noch Rede des Erzählers. Diese spiegelt jedoch die Gedanken der Figur. In der Regel werden spezifische Ausdruckweisen, Sprachstil und andere „Redemerkmale“ der Figur verwendet. Die erlebte Rede wird auch oft als „Doppelrede“ bezeichnet: Erzählerrede und Figurenrede verschmelzen zu einem Ganzen, in dem beide Stimmen anklingen.

Ein von mir erfundenes Beispiel:

Klara betrat das Zimmer. Schließlich hatte ihr Großvater es ihr befohlen. Sie zuckte zusammen. Was für ein grässlicher Raum! Opulent und makaber zugleich, vollgestopft mit Schickschnack und Glitzerkram und nur von Kerzenschein erleuchtet. In Draculas Schloss sah es bestimmt kaum anders aus, dachte Klara. Das war ja mal wieder typisch für ihren Großvater! Sie würde nie verstehen, warum ihre Eltern so großen Respekt vor dem Alten hatten. Er war ein Tattergreis ohne einen Funken Verstand in seinem aufgeblasenen Schädel! Der Tag würde kommen, da ihre Eltern verstehen würden, was sie jetzt schon wusste. Das schwor Klara sich hier und jetzt, in diesem furchtbaren, dunkel-glitzernden Raum, der ihr der Galle in den Mund trieb.

 

Innerer Monolog

Der innere Monolog unterscheidet sich von der erlebten Rede vor allem dadurch, dass er in der ersten Person geschrieben ist. Selbst wenn die Erzählung ansonsten in der dritten Person gehalten wird, wechselt sie beim inneren Monolog in die Ich-Form.

Der innere Monolog ermöglicht es, direkt in Gedanken und Gefühle der Figur hineinzutauchen und ganz auf die Vermittlung durch den Erzähler zu verzichten Die erlebte Rede kann dagegen eher als ein „Zwischenmodus“ betrachtet werden. Der innere Monolog ist das wichtigste Mittel für die Darstellung des Bewusstseinsstroms.

Klaras Geschichte könnte sich im inneren Monolog etwa so lesen:

Klara betrat das Zimmer. Schließlich hatte ihr Großvater es ihr befohlen. Der alte Tyrann, fuhr es ihr durch den Kopf, meine Fresse, ich kann nicht mehr. Und mein Gott, was ist das für ein scheußlicher Raum. Schnickschnack überall, das glitzert wie in einem Bordell, nicht dass ich schon mal in einem Bordell gewesen wäre, aber es geht ums Prinzip. Kerzenlicht, ich fass es ja nicht. Draculas Bude ist nichts dagegen. Wie typisch! Und die Eltern! Ich werd nie verstehen, warum die sich vor dem Alten so ducken. Was für einen Respekt die vor dem haben. Lächerlich, vor dem alten Tattergreis, der hat doch keinen Funken Verstand in seinen alten Schädel! Eines Tages, da werden sie das schon verstehen, das weiß ich einfach. Mein Gott, dieses Geglitzer. Echt zum Kotzen!

 

Schreib-Werkzeuge für die Unmittelbarkeit?

Sowohl innerer Monolog als auch erlebte Rede versuchen, die Figuren zu Wort kommen lassen. Die erlebte Rede filtert das Ganze durch die Stimme des Erzählers. Es entsteht eine Art Doppelrede. Beim inneren Monolog wird die Innenwelt der Figur (fast) ungefiltert zum Ausdruck gebracht. Im Extremfall kann dies zum Verschwimmen aller konventionellen geordneten Sprachstrukturen wie Grammatik, Satzbau, Satzzeichen und Satzlogik führen.

Trotz allem aber sind erlebte Rede und sogar der innere Monolog nur eine Annäherung an die Unmittelbarkeit. Denn ganz unmittelbar („authentisch“) ist Erzählen nie. Dazu aber mehr an anderer Stelle. 😉