Wer auf der Homepage von „Die Erste Tochter“ rumgeschmökert hat und die ersten beiden Bände kennt, wird vielleicht festgestellt haben, dass hier unter den handelnden Personen jemand auftritt, der im Buch gar nicht wirklich handelt: die Tödin.
Aber wer ist das eigentlich?
Die Dame Tod
Die Tödin ist wohl das fantastischste Element in meinem Zukunftsepos. Einfach ausgedrückt, ist sie der manifestierte Tod. Einen Namen hat sie nicht. Der Ausdruck „die Tödin“ kommt im Buch selbst nicht vor. Es ist nur meine Bezeichnung für diese Gestalt, die ich mir aus mittelalterlichen Märchen über „den Tod und die Tödin“ abgeschaut habe. Ein bisschen von Georg Trakl ist das Wort auch inspiriert, der in seinen Gedichten gern rein männliche Nomen verweiblicht und von „der Möndin“ oder „der Mönchin“ schreibt. Und wieso sollte der Tod nicht eine Frau sein?
Die bleiche Hel
Für mich hat die Vorstellung eines weiblichen Todes etwas unglaublich Ermächtigendes. Warum, kann ich gar nicht so genau sagen. Vielleicht, weil diese Idee so alt ist, auf Figuren zurückgeht wie die germanische Hel, auf meine geliebte Persephone oder sogar die babylonische See-Drächin Tiamat, die die junge Schöpfung zurück ins Chaos stürzen will. Und diese Figuren könnten wiederum Überbleibsel aus noch älteren Mythen sein, Geschichten vor jeglicher Verschriftlichung, in denen Leben und Tod sich in der Gestalt einer Großen Mutter vereinten.
Die Mythen der Singisen sind mindestens so patriarachal wie die Geschichten, die jene prähistorischen Mythen ablösten und Hel und Persephone in die Unterwelt und Tiamat ins Chaos verbannten. Aber bei den Singisen ist der Tod eine Frau. Lchnadra heißt die singisische Muttergöttin, und sie symbolisiert zugleich den Tod und die Zeit. Wo der Vatergott Wy das Sein ist, ist sie das Werden. Nur durch sie kommt das Leben in Fluss. Ich mag diese Vorstellung.
Die Erzählerin
Aber was macht die Tödin im Roman? Einfach gesprochen: Sie erzählt.
Die Tödin berichtet dem Leser über Dinge, von denen die Ich-Erzählerin Myn nichts wissen kann, weil sie nicht dabei gewesen ist. Wie und womit sie Myns Erzählung ergänzt, entscheidet die Tödin nach eigenem Gutdünken. In ihren eigenen Worten klingt das so:
Es heißt, ich bin das unausweichliche Ende einer jeden Geschichte, doch diese eine begann mit mir. Sie hat mich hierhergeführt, in diese vielgestaltige Stadt, recht unerwartet, möchte man meinen. Natürlich bin ich immer hier, überall, auch jetzt. Ich streife durch die Stadt, und der whiskeyselige Mann unter der Turmbrücke geht wie zufällig mit mir. Im Operationssaal, wo die Ärzte mit mir ringen wie Jakob einst mit seinem Herrn, ein alter Kampf, den ich mit weit weniger Leidenschaft zu führen pflege als sie, hält mich der Patient unter ihren Messern für einen Tunnel aus Licht. Das tun sie oft. Das großäugige Kind auf dem Rücksitz der Flugmaschine winkt einem Gerippe im schwarzen Mantel zu, das ein wenig aussieht wie sein Großvater. Das Kind lacht mich an. Das tun sie selten.
Ich bin hier. Doch schon lange kam ich nicht mehr als die Alte, die Dunkle, die Mutter. Bis jetzt, da eine Frage gestellt wurde, die mich gerufen hat. Draußen vor den verspiegelten Fenstern zerteilt der Fluss gezeitenatmend die Stadt, und drinnen steht die Frage breit und schwer zwischen einem Mann und einer Frau und verlangt nach Antwort.
„Sie wollen es wirklich wissen?“, fragt die Frau nach. Schon jetzt sieht sie müde aus. Vielleicht weiß er sogar, was er da von ihr verlangt. Doch gegen die erste Sünde der Menschheit ist auch er nicht gefeit. Die Angst vor den Worten sitzt ihr im Nacken, aber sie kann sich dem Drängen in den fremdartigen Augen nicht verschließen. Draußen singt der große Glockenturm sein immer wiederkehrendes Loblied auf die Zeit. Die beiden hören es nicht.
„Bitte“, sagt er, als ihr Schweigen die Überhand zu gewinnen droht. „Erzählen Sie es mir.“
Aber wie kann sie das? Sie weiß nicht, wie es begann. Denn am Anfang war der Tod – der Tod und eine plötzliche Anwandlung von Selbstsucht, wie sie mir zugegebenermaßen nicht gebührt.
Die Mutter
Außerdem hat sich die Tödin Vairrynn als ihr eigen auserkoren. Warum sie das getan hat, warum sie überhaupt erzählt oder sich manifestiert, bleibt lange ungewiss. Sie ist der Tod und sie ist eine alte Frau. Sie tut, was ihr gefällt. Jede Regel hat ihre Ausnahme. Selbst diese.
Wenn ich jetzt mal den Vorhang ganz weit aufmache und den Blick hinter die Kulissen gewähre, dann kann ich verraten, dass ich, die Autorin, die Dame Tod als zweite Erzählerin gewählt habe, weil mir Myns Erzählung allein nicht ausgereicht hat.
Myn steht im Zentrum von „Die Erste Tochter“, ist Titelheldin und Ich-Erzählerin. Aber das Epos erzählt auch von Singis – nicht nur von einer Frau und einem Kampf, sondern auch von einem Planeten.
Ich schreibe über eine Welt im Umbruch und von Leuten, die sich in dieser Welt selbst finden müssen. Da hat mir eine einzige, kleine Stimme einfach nicht ausgereicht, und mag sie auch so stark sein wie die unserer Myn. Ich brauchte einen Erzähler, der alles sieht. Ich brauchte die Tödin.
Dass die Tödin eine alte Frau ist und vielleicht Manifestation der singisischen Muttergöttin – nun, das wird sicher früher oder später eine Rolle spielen …