Im Zentrum einer Geschichte stehen die Charaktere, ihre Beziehungen und Konflikte untereinander, ihre Auseinandersetzung mit der Umwelt. Wenn man lebendige Charaktere erschafft, gelingt es einem wahrscheinlich auch, eine lebendige, spannende Geschichte zu erzählen. Es sind die Motivationen, Wünsche, Ziele und Probleme der Charaktere, die die Handlung vorantreiben.
Die innere Logik
Der plot sollte nicht nur von äußeren Einflüssen getragen werden. Das kann oft wirken wie „die Hand des Schicksals“ – oder mit anderen Worten: konstruiert. Plausibler und effektiver ist es, den plot durch die Motive und Handlungen der Personen voranzutreiben.
Ereignis E geschieht, weil Tyrann T etwas getan hat. Ereignis E nimmt dem Gutewicht G etwas Wertvolles, und deswegen muss er in die Welt ziehen. – Eine solche Geschichte wirkt interessanter und nachvollziehbarer, wenn T aus innerer Motivation heraus handelt. Anstatt einfach nur, weil er eben ein Tyrann ist – und weil der Autor ein Ereignis braucht, damit G in die Welt hinaus zieht.
Je komplexer bzw. ungewöhnlicher die Motivationen von T und G, desto interessanter wird in der Regel die Geschichte. Die Handlung sollte in erster Linie durch die innere Logik der Charaktere vorangetrieben werden.
Der Kern des Charakters
Eine „Erzählfigur“ entsteht in Zusammenhang mit der Geschichte. Sie wird geschaffen, weil sie eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hat. Am Anfang ist deswegen fast jeder Charakter zweidimensional. Er ist weniger Person als ein Typ.
Der Autor selbst hat an diesem Punkt oft eher eine schemenhafte Vorstellung von Aussehen und Persönlichkeit, und beides ist auf die Rolle zugeschnitten, die die Figur zu erfüllen hat. Ich nenne das den Kern des Charakters.
Diese erste Funktion eines Charakters ist die Wurzel, aus dem sich die Figur und ihre Persönlichkeit, ihr Schicksal und ihre weitere Rolle in der Geschichte entwickeln kann. Deswegen ist es wichtig, diesen Kern für sich selbst genau zu begreifen.
Wichtige W-Fragen
Drei Fragen können helfen, den Charakter von diesen ersten Anfängen aus weiterzuentwickeln:
1) Warum tut diese Person, was sie tut?
Bisher habe ich die Figur erfunden, weil ich sie und ihre Handlungen brauche, aus rein funktionalen Gründen. Um den Charakter zu vertiefen, muss ich mir nun die Motivation der Figur für ihr Handeln überlegen. Ich weiß, warum ich als Autor diese Figur hier haben will. Aber was will sie?
2) Wie ist die Person dahin gekommen, wo sie ist?
Damit ist nicht die Frage nach dem Weg gemeint – oder zumindest nicht nur – sondern die Frage nach der Vergangenheit der Person. Bei allen Charakteren, die öfter als in einer Situation auftreten (und manchmal auch bei einmaligen Auftritten), ist es wichtig zu verstehen, wie sie geworden sind, was sie sind. Dazu muss man sich nicht die gesamte Biografie jeder einzelnen Figur überlegen, aber über einige Schlüsselereignisse sollte man sich Klarheit verschaffen.
Gern genannte Beispiele und hilfreiche „Abkürzungen“, die eigene Figur zu verstehen, sind: Was war das schönste und was das schrecklichste Ereignis im Leben dieser Person?
3) Wo will die Person hin und wohin wird sie angesichts der Umstände gehen?
Diese Frage ergibt sich aus den ersten beiden – und sie ist die Frage nach dem weiteren Verlauf des plots: Wie fügen sich Wollen und Tun dieser Figur in meine Geschichte ein? Wird dieser Charakter von der Geschichte geformt oder formt er die Geschichte? Gelangt er dorthin, wo er hin will, oder ganz woander hin? Und was von beidem ist besser?
Vor allem den zweiten Teil der Frage – wohin es die Figur verschlägt – muss man nicht unbedingt von Anfang an im Detail bedenken. Wahrscheinlich ergibt sich dieser Weg aus Interaktion des Charakters mit der Geschichte und den anderen Charakteren. Aber es schadet nicht, über eine ungefähre Zielrichtung nachzudenken.
Erste Schritte
Wer sich diese drei(einhalb) Fragen zu seinen Figuren beantwortet – vor allem zu den wichtigen – ist schon ein paar enorme Schritte weiter, um mehrdimensionale und vielleicht sogar vielschichtige Charaktere zu erschaffen. Und das ohne großen Aufwand!
Einfach mal ausprobieren! Das Wichtigste von allem ist, dass der Autor die eigenen Figuren selbst versteht – und mag!
Aber das ist ein Thema für einen anderen Blog-Eintrag.