Dionysos Kessler, ein Piratennest und der vermutlich schönste Mann der Galaxie

Auf der anderen Seite des Raumes saß ein Mann auf einer Pritsche. Keines dieser Worte wurde der Situation gerecht. Normalerweise war Dio gut mit Worten.

„Ähm“, machte er.

Eigentlich wollte Dio vom Kessel-Clan seinen schönen, kleinen Mond voller Bodenschätze und anspruchsloser Menschen gar nicht verlassen. Aber jetzt sitzt er auf irgendeinem verlassenen Zwergmond im Niemandsland des Titanidenraums in einer Zelle fest. In den Fängen von Piraten, die ihn erpressen wollen. Zusammen mit einem Mann, dem er nicht vertrauen kann. Und in den sich zu verlieben er auf dem besten Weg ist.

Schicht im Schacht. Aber so was von. Wie soll Dio sich aus dieser Patsche nur wieder rausmanövrieren? Wenn Guang Yu wenigstens den Anstand besitzen würde, ihn nicht anzulächeln. Mit diesem Lächeln, das seine Augen warm und sämig macht wie Harztee. Zum Untergrund noch mal!

Sternenglut 3 – Ein Raum voller Welten

“Die Entdeckung von Guang Yu” ist der zweite Eintrag in der Reihe “Die Trabanten der Titanide”. Den Ersten Gesang “Klangkinder” muss man nicht gelesen haben, um den Zweiten zu verstehen. 🙂 Das ist das Schöne an den Geschichten über die Monde der großen Gasriesin.

In der Erzählung “Die Entdeckung von Guang Yu” geraten zwei junge Männer von sehr unterschiedlichen Monden in die Fänge einer skrupellosen Freibeuterbande. Die Piraten haben nichts Besseres zu tun hat, als ihre Gefangene zusammen in eine Zelle zu stecken und dabei zuzusehen, was passiert. Doch was daraus entsteht, hätten sie sich in ihren spacigsten Träumen nicht ausgemalt …

“Die Entdeckung von Guang Yu” ist in der SciFi-Anthologie “Sternenglut 3 – Ein Raum voller Welten” erschienen. Die 8 Stamm-Mitglieder der „Sternenglut-Crew“ und ein amerikanischer Gastautor erzählen darin Weltraum-Geschichten vom Feinsten. Diesmal geht es um große Fragen: Was ist künstliche Intelligenz – was ist ein Mensch? Welche Zukunft haben wir? Was ist der Sinn von alldem? Aber es geht auch um stille Momente zwischen Freunden, Familie, Fremden und Liebenden – eben um das, was das Menschsein lebenswert macht. Heute und in Zukunft.

Und so beginnt die Entdeckung von Guang Yu …

Zwergmond Priam, Außenbereich der Homonoia, Dio

Die kybernetische Hand, die seinen Nacken gepackt hielt, war glatt und warm, fühlte sich fast an wie echte Haut, doch ihr Griff war eisern. Dio hatte noch keinen guten Blick darauf erhaschen können, aber das brauchte er auch nicht. Das Gefühl in seinem Nacken sagte ihm, dass das Teil aus reinem Hadessium war, und erstklassig verarbeitet noch dazu. Nichts, was man bei dem Kommandeur eines vermergelten Piratenschiffs erwarten würde – die fehlende Hand zwar schon, den High-Tech-Ersatz aber weniger. Die Ungereimtheit pflanzte einen Stein in Dios Magen. Piraten waren schlimm genug; staatlich geförderte oder privat finanzierte Freibeuter waren noch mal ein ganz anderes Kaliber. Mit Piraten hätte es Dio vielleicht aufgenommen. Möglicherweise.

Er wusste nicht, wo er war und wohin er geschleppt wurde, nur dass er sich nicht mehr auf dem Raumschiff befand, das seinen Passagierkreuzer aufgebracht hatte. Das hatte er nun davon, dass er seinen friedlichen Heimatmond verlassen hatte; auf Aïdes wollten die Menschen nicht mehr als Bodenschätze schürfen und in Ruhe reich werden. Oder zumindest zufrieden, das genügte eigentlich schon. Im Moment jedoch war Dio ganz und gar nicht zufrieden. Die Hadessium-Hand zwang seinen Nacken nach unten, sodass er kaum etwas anderes sah als seine eigenen Schuhspitzen und einen grau-metalligen Kunststoffboden, wie man ihn in den Gängen jeder x-beliebigen Raum- oder Mondstation finden konnte. Beim Untergrund, wahrscheinlich hatte jedes zweite Verwaltungsgebäude im Trabantenbund genau den gleichen, nichtssagenden Bodenbelag. Was die administrativen Bauten auf den Monden der Titanide hingegen eher nicht aufzuweisen hatten, waren gepanzerte Schubtüren, doppelt gesichert durch knisternde Energiefelder. Dio fragte sich, warum diese Leute überhaupt Schiffe ausrauben und Leute kidnappen mussten, wenn sie sich so etwas leisten konnten. Mit einem unangenehmen Druck gegen seine Halswirbelsäule schob ihn der Besitzer der Hadessium-Hand durch die gepanzerte Tür; aus irgendeinem Grund schien der Kerl nicht besonders gut auf ihn zu sprechen zu sein.

„Ich hab dir was mitgebracht, Prinzlein“, sagte er mit seiner schnarrenden Stimme. Die kybernetische Hand fuhr Dio durchs Haar, packte zu, bog seinen Kopf nach hinten. „Sorg dafür, dass er sich benimmt!“

Nun war Sich-Benehmen nicht gerade Dios Stärke; seine Stärke war sein Wissen über Hadessium. Zielgenau fanden seine Fingerspitzen die Stelle, wo das Metall der Hand auf den Muskel des Unterarms traf. Er klappte seine Fingernägel aus und grub sie in die bloße Haut hinein, tiefer und tiefer, bis zu den Nervenenden, die sich mit der Kybernetik verflochten. Als Dreingabe schickte er noch ein paar Naniten hinterher. Dieser erbärmliche Menschenjäger war nicht der Einzige, der aus mehr bestand als Fleisch und Blut und Knochen und Horn.

Der Freibeuter ließ einen mit Schmerz vermischten Fluch hören, stieß Dio von sich und schlug ihm ins Gesicht. Mit dem Rücken der kybernetischen Hand natürlich. Aber aus der Verbindungsstelle von Hand und Arm quoll Blut und die Glieder der Finger wirkten steif, ließen sich nicht mehr vollständig strecken. Dio grinste. Dass seine Wange heiß wurde und seine Ohren von dem Schlag klingelten, war ihm egal. Immerhin war er seinen Frust und seine niedlichen Nanoroboter losgeworden. Der Möchtegern-Korsar gab ein Zischen von sich und schüttelte die Hadessium-Hand aus, als würde das helfen.

„Glaub mir, Kleiner, du wirst mir schon noch sagen, was ich wissen will“, schnarrte er. „Und wenn du nicht möchtest, dass wir dir deine Krallen stutzen, dann lässt du sie eingezogen, kapische?“

Dann fuhr er auf den Hacken herum und verschwand durch die Schubtür, die sich lautlos hinter ihm schloss. Verflixt gute Technologie. Einen Moment später wurde knisternd das Energiefeld von außen aktiviert.

„Kapische“, grummelte Dio die Tür an. „Wer zum Untergrund redet denn so?“

„Ilier“, sagte eine sonore Stimme in seinem Rücken.

Dio drehte sich um und sagte „Ah“. Mehr fiel ihm beim besten Willen nicht ein.

Auf der anderen Seite des Raumes saß ein Mann auf einer Pritsche. Keines dieser Worte wurde der Situation gerecht. Normalerweise war Dio gut mit Worten.

„Ähm“, machte er.

Der Mann auf der Pritsche lächelte. Nicht sonderlich breit, geschweige denn strahlend, aber das Lächeln machte seine Augen warm wie dunklen, sämigen Harztee. Mit gerade der richtigen Menge Alkohol, so wie ihn die Bergleute auf Aïdes tranken, wenn die Nächte kalt und sternenklar waren. Für einen Moment fühlte sich Dio zurückversetzt zwischen die gezackten Gipfel des Semelengebirges, das den weiten Talkessel seines Clans einschloss. Es glänzte immer Schnee von den Bergspitzen, und die Luft war dort oben so klar, dass er manchmal meinte, den runden Körper der Gasriesin, um die sie alle kreisten, wie eine polierte Marmorkugel vom Himmel pflücken zu können. Dio schluckte. Die Enge des Raumes, in den ihn der schnarrende Freibeuter gesperrt hatte, schnürte ihm die Kehle zu.

„Ilier sprechen nicht so“, brachte er endlich hervor.

Es waren nicht die Worte, die er gerne zu dem Mann am anderen Ende des Raumes gesagt hätte, aber sie waren wichtig. Er musste herausfinden, mit wem er es zu tun hatte. Und Dio mochte seinen Heimattrabanten noch nie zuvor verlassen haben, aber es verschlug genug Ilier nach Aïdes. Aus den Gebeinen des Mondes wurde Wohlstand für den ganzen Titanidenbund geschürft, und so war es kein Wunder, dass es Menschen von überall her dorthin zog. Den meisten Iliern war ein gewisser ungehobelter Charme zu eigen, den sie selbst für verwegen hielten, und sie mischten ihr Grenglisch mit so vielen eigenwilligen Ausdrücken, dass es ein Abenteuer sein konnte, sich mit ihnen zu unterhalten.

„Der Anführer verstellt seine Sprechweise. Doch Gewohnheiten sind nur schwer abzulegen, und hin und wieder rutscht ihm ein Wort heraus, das nur ein Ilier verwenden würde“, sagte der Fremde auf der Pritsche. Dabei senkte er den Kopf ein wenig. Es sah aus, als würde der Wind die Zweige einer Weide neigen. Ein paar Strähnen seines langen, onyxdunklen Haars fielen ihm ins Gesicht und rahmten es ein. Den Rest hatte er zu einem halben Pferdeschwanz hochgebunden, der von einem ausgefeilten Schmuckstück aus weißer Jade zurückgehalten wurde; Dio juckten die Finger, so gern hätte er sich das kunstvolle Ding näher angesehen.

Genauso geschliffen wie der Jadeschmuck war das Grenglisch des Fremden; es konnte unmöglich seine Muttersprache sein. Nicht dass dies eine überraschende Erkenntnis gewesen wäre. Bewohner des Mondes Guangyue mochten sehr viel seltener ihren Weg nach Aïdes finden als Leute von Ilion, dafür waren sie aber auch unverwechselbarer. Und der Fremde war von Kopf bis Fuß ein Guang. Seine Haartracht, die zart bestickten Hanfu-Roben, die in verschiedenen Schichten von Grün- und Brauntönen übereinanderlagen, die elegante Haltung, in der er mit unterschlagenen Beinen auf der Pritsche saß, und, wenn man oberflächlich sein wollte, auch seine markanten Gesichtszüge, wie man sie kaum auf einem Titanidentrabanten fand, auf dem nicht Guanhua gesprochen wurde – es brauchte keinen Identitätschip, um anzuzeigen, dass er nicht nur von Guangyue stammte, sondern tief in den Traditionen des Lichten Mondes verwurzelt war. Entweder das oder er gab sich alle erdenkliche Mühe, genau diesen Anschein zu erwecken.

Der Stein in Dios Magen wurde schwerer. Das ganze Tableau, das sich ihm darbot, lud zu der Schlussfolgerung ein, dass sein Gegenüber ein Guang und ein weiterer Gefangener der Freibeuter war. Vielleicht wollten die vermergelten Piraten einfach Platz sparen und hatten Dio deshalb zu ihm in die Zelle gesteckt. Und wahrscheinlich fragte sich der andere gerade ebenso wie Dio, warum er nun mit einem völlig Fremden auf engem Raum zusammengepfercht war. Die Sache war nur … Der Mann wirkte nicht wie ein Gefangener. Er machte nicht den Eindruck von jemandem, der seiner Freiheit beraubt war, um sein Leben fürchtete oder auch nur ein gewisses Unbehagen empfand. In der Tat hatte Dio das Gefühl, noch nie jemandem begegnet zu sein, der so viel Gelassenheit ausstrahlte wie dieser Guang, der irgendwo im Niemandsland der Homonoia auf einer Pritsche in einer Zelle in der Basis einer wahrscheinlich skrupellosen Piratenbande saß.

„Der Ilier hat dich ein Prinzlein genannt“, sagte Dio langsam, die schnarrende Stimme des Freibeuters noch im Kopf.

Die Mundwinkel des Guang bogen sich wieder nach oben, aber diesmal wurden seine Augen nicht so warm. „Womöglich ist das Wort in seinen Ohren eine unsägliche Beleidigung und er hofft, mich zu provozieren.“

Der Guang sah alles andere als provoziert aus. Was er aber dann war, konnte Dio nicht festmachen.