Über einen Mond unter vielen, seine Bewohner und seine Geheimnisse

Sie ist nichts Besonderes. Das weiß die sechzehnjährige Jambe nur zu gut. Obwohl, nein, das stimmt nicht: Sie ist sehr wohl etwas Besonderes! Anders als alle anderen Bewohner des Mondes Euterpe wird sie nie eine Klanggabe bekommen, keine besondere Eigenschaft wie Vielstimmigkeit, Traumsingen oder Töne greifbar zu machen. Da ist sich Jambe sicher. Und als ihr Bruder Orfeo die fürchterlichste Klanggabe aller Zeiten erhält, ist sie nicht einmal mehr traurig deswegen. Doch der Mond Euterpe fragt seine Kinder selten, was sie wollen. Und Jambe hat recht: Sie ist durchaus etwas Besonderes …

„Klangkinder“ ist erschienen in der Science-Fiction-Anthologie „Sternenglut – Reisen ins Grenzenlose“, erhältlich als E-Book und Taschenbuch. Mehr zu „Sternenglut“ findet ihr hier.

Leseprobe aus „Klangkinder“

Schwer und dick tauchte die Titanide in die schwarzen Wolken ein, die wie Eselsbäuche vom Himmel hingen. Jambe fand es immer ein wenig unheimlich, wenn der Planet hinter den dunklen Schleiern verschwand. Die gewaltige Gasriesin war die Quelle allen Lebens auf den Monden, die sie umkreisten. Ohne sie wäre alles kalt und öd, so hieß es in den alten Geschichten. Zu weit weg war die weißgelbe Sonne, zu alt die Raumschiffe, die die Menschen einst hergebracht hatten.

„Jambe!“, drang die Stimme ihrer Mutter durch die offene Haustür. Es klang wie das Zwitschern eines Nachtnymphs. Eigentlich hatte Jambe keine Lust, dem Ruf zu folgen, aber sie war noch längst nicht alt genug, um ihn zu überhören.

Kalliope saß drinnen am Webstuhl und erschuf mit schlanken Fingern ein Geflecht aus Klängen. Aus leerer Luft, so mochte es jedenfalls für einen Fremden erscheinen. Doch selbst Jambe, die ihre Eingebung noch nicht durchlaufen hatte, konnte die Tonfäden in der Luft glitzern sehen, zart und dünn wie Seide und stark wie das Gewebe der Welt. Es war der Stoff, aus dem der Mond gemacht war, auf dem sie lebten. Richtig verstehen konnte das keiner, und nur Kalliope war in der Lage, die Fäden aus der Luft zu rupfen wie Flachs.

„Hast du Hunger?“, fragte Kalliope.

„Nein.“

„Er kommt nicht früher zurück, nur weil du nichts isst.“

Jambe schob das Kinn nach vorne. Das wusste sie selbst. Sie war doch kein Kleinkind mehr!

„Vielleicht kommt er ja gar nicht zurück.“

Es folgte ein langer Blick ihrer Mutter, der deutlich sagte: Darüber scherzt man nicht. Jambe rieb sich die dünnen Arme. So hatte sie das nicht gemeint. Ihr Bruder würde wiederkommen, und zwar mit der besten Eingebung aller Zeiten und Monde!

Der Klangteppich klirrte, als Kalliope vom Webstuhl aufstand. Jambe stellten sich die Armhärchen auf.

„Willst du ihm entgegengehen?“

Die Frage ihrer Mutter ließ Worte in Jambe hochblubbern wie Sprudelwasser: „Oh, darf ich, Mama? Wirklich?“

Kalliope lächelte herb. „Wenn du mich ausreden lässt, dann ja, meine kleine Spottdrossel.“

Sie klopfte sich die seidenfeinen Töne von den Händen und ging in großen Schritten Richtung Küche. Kalliope machte immer große Schritte; die Tücher in ihrem dunkelblonden Haar wehten dabei wie in einem unsichtbaren Wind und klimperten zart. Jambe wartete wortlos ab. Wortlos war manchmal besser. Sie wippte von einem Fuß auf den anderen, bis ihre Mutter mit einer aus Bast gewebten Picknicktasche zurückkam und ihr diese in die Hand drückte. Neugierig spähte Jambe hinein: sandgelber Basskuchen, Eier, geräucherter Schinken, Minzsprudelwasser und zwei Hesperidenäpfel. Freudentagsessen.

„Meinst du, Orfeo hat seine Eingebung bekommen?“, frage Jambe leise, ohne den Blick aus der Picknicktasche zu nehmen.

Kalliope lachte wie dunkle Glocken. „Jeder bekommt seine Eingebung, mein Drosselchen. Die Frage ist nur, was.“

Jambe lächelte verhalten. Sie spürte ihre Finger beben.

„Bist du nicht gespannt?“

„Bis zum Zerbersten“, sagte Kalliope und drückte ihrer Tochter einen schnalzenden Kuss auf die Wange. Er prickelte auf der Haut.

Mit einem kleinen Grinsen wischte sich Jambe über die Stelle. Heute war bestimmt ein guter Tag!

 

Draußen hatte der leuchtende Körper der Titanide die Wolkendecke durchbrochen und überzog die Wiesen mit Glitzer. In der Nacht zuvor hatte es Töne geschneit. Jambe warf einen langen Blick über das offene Grasland, das sich im Westen der Siedlung zu sanften Hügeln aufwellte, und rückte die Tondämpfer über ihren Ohren zurecht. Das warme Licht der Titanide und der kalte Glanz der fernen Sonne vermischten sich und ließen den Frost vibrieren. Selbst wer auf dem Mond Euterpe aufgewachsen war, hielt das ohne Geräuschschutz nicht lange aus. Trotz der Tondämpfer spürte Jambe die Schwingungen in ihren Knochen. Ob das ein gutes Omen für Orfeos Eingebungstag war, wusste sie nicht. Die alte Tante Ge hätte es ihr vielleicht sagen können, aber Kalliope hatte es nicht so gern, wenn sich ihre Kinder von der Nachbarin Geschichten erzählen ließen.

„Ihr Ton ist disharmon“, sagte Kalliope des Öfteren, wenn Orfeo oder Jambe sie danach fragten.

Jambe verstand das nicht so ganz. Sie fand den Ton, den Tante Ge anschlug, sehr schön. Wann immer die alte Frau sprach, war es, als würden viele Menschen zugleich und doch in Einklang reden, ein Chor von Stimmen, die alle dasselbe sagten. Man brauchte etwas Übung, um ihr zuzuhören, aber Jambe mochte Ges Polyphonie. Ob Orfeos Eingebung auch seine Stimme verändern würde? Es war gut möglich. Schon jetzt lobten alle die Art, wie er sprach – samtig und sanft und melodisch. Jeder wusste, dass die Art der Gabe, mit der die Euterpe all ihre Bewohner bedachte, sich Jahre vor der eigentlichen Offenbarung andeutete. Kalliope, so erzählte sie gern, hatte schon als Kind die Tonfäden auf ihrer Haut gespürt, wann immer sie mit bloßen Armen und Beinen über die weiten Wiesen ihrer Heimat lief.

Die Hoffnung in Orfeos Namen würde sich erfüllen, das war so sicher wie der Hall der Morgenröte.