Nur noch eine letzte Prüfung des Drucks, und dann ist Myn, der Adelsspross, ausgereift und das Taschenbuch überall käuflich zu erwerben! Kleine Preview gefällig?

An dem Abend, da die Alte in mein Leben trat, las ich ein Buch, obwohl ich eigentlich hätte sticken sollen. Wie so oft im Herbst auf Singis, in der Sturmzeit, wie wir sagen, heulte der Wind um das Haus und ließ die Fensterschilde knistern. Meine Mutter und ich saßen am prasselnden Kamin und gaben ein Tableau gut-singisischer Häuslichkeit, zumindest bis zu dem Moment, da ich kapitulierte und meinen Stickrahmen gegen ein zerlesenes Buch austauschte, voller Legenden über Götter und Geistwesen und solche, die beides waren.

Meine Mutter webte gerade an einem Teppich, auf dem in einem Tanz von Licht und Schatten der Triumph des allmächtigen Wy über den Göttlichen Gegner Form annahm, und tat so, als würde sie meinen kleinen Akt des Ungehorsams nicht bemerken. Auch von meinem Vater drohte mir im Moment keine Rüge. Er saß bei meinen beiden Brüdern an dem schweren, dunklen Holzsteintisch gegenüber dem Kamin und legte gerade letzte Hand an eine zierliche Figurine. Um ihn herum hätte also gerade das Singisische Reich untergehen können, ohne dass er mit der Wimper gezuckt hätte. Die Weigerung seiner Tochter, ihr Geschick in Handarbeiten zu vervollkommnen, wie es sich für ein Mädchen aus gutem Hause gehörte (ganz besonders, wenn es um dieses Geschick derart düster bestellt war wie um das meine), war sicher nicht dazu geeignet, die Aufmerksamkeit meines Vaters von seinem kleinen Kunstwerk abzulenken.

Mein Vater, Eftnek Neoly, war Holzsteinschnitzer, und er war einer der besten. Davon zeugten die kleinen Statuen in den Winkeln des Zimmers, in jeder der acht Ecken zwei, je eine aus hellem und eine aus dunklem Holzstein. Unschwer war zu erkennen, dass die Liebe zu Legenden und Märchen in der Familie lag. An unseren Wänden wachten nicht hochgereckte Statuen von Gründervätern, sondern die sagenumwobenen Chyndrai: Neckische Wassergeister und flackernde Feuerfrauen verschlangen sich ineinander, Himmelstöchter hoben ihre ätherischen Arme gegen die Decke, als wollten sie nach den Sternen greifen, und Erdgeister formten sich selbst aus den Gebeinen der Welt. Zusammen mit Mutters zartgewebten Seidenteppichen verliehen die Figuren unserem kleinen Familienzimmer einen Hauch von Anderweltlichkeit, ganz so, als hätten die Chyndrai selbst es berührt – so zumindest sagte ich, wenn meine Fantasie einmal wieder Kapriolen schlug. Mein kleiner Bruder Mudmal pflegte dann die Augen zu verdrehen wegen seiner albernen Schwester, was er sehr oft tat und sehr theatralisch, damit auch ja niemand auf die Idee kam, er könnte mit meiner Torheit irgendetwas gemein haben. Aber damit konnte ich umgehen. Das war normal. Nicht normal war, dass mein großer Bruder mich bei solchen Gelegenheiten mit glitzernden Augen ansah, mich eine kleine Poetin nannte und mir heimlich eine Memofeder und Speicherpapier in die Hand drückte, damit ich aufschreiben konnte, was mir durch den wirren Kopf ging. Natürlich überforderte er mich damit heillos, aber das schien er nicht einzusehen.

Vairrynn. Ich zählte damals neun Jahre, mehr als genug, um zu verstehen, dass mein großer Bruder … anders war. Da diese Andersartigkeit aber dazu führte, dass er mich behandelte, als wäre ich so viel wert wie er, akzeptierte ich sie dankbar, ohne mir allzu sehr den Kopf darüber zu zerbrechen. Immerhin waren wir eine Künstlerfamilie, und da war für jemanden wie Vairrynn allemal der richtige Platz. Das glaubte ich.

An jenem Sturmzeitabend las ich also von den Irrungen und der Glorie der Chyndrai, als die Türglocke durchdringend durch das Haus hallte. Wir alle zuckten zusammen wie ertappte Missetäter. Selten kam jemand unangemeldet zu dem Holzsteinschnitzer Neoly, und schon gar nicht zu so später Stunde, es sei denn, dieser Jemand war mein Großvater. Und die Besuche des alten Patriarchen bei seinem Erstgeborenen waren selten friedvoll.

„Würdest du wohl in nächster Zeit an die Tür gehen?“, fragte mein Vater nach einem Moment und beugte sich wieder über seine Figurine. Die Frage war an mich gerichtet; da Dlindgy, unser Mädchen für alles, heute ihren freien Abend hatte, war es meine Aufgabe, die Tür zu öffnen. Seufzend legte ich mein Buch aus der Hand und machte mich auf den Weg. Ich meine das, wie ich es sage, denn um vom Familienzimmer, das auf den Garten hinauszeigte, zur Vordertür zu gelangen, musste ich fast durch das ganze Haus, und es war ein großes Haus.

Als sein Ältester es sich in den Kopf gesetzt hatte, nach seiner Heirat nicht im Stammsitz der Familie wohnen zu bleiben, hatte der alte Neoly getobt, zumindest den stetig wiederholten Berichten meiner zahlreichen Großtanten zufolge; aber er hatte sich nicht lumpen lassen wollen und seinem Sprössling eines seiner spatiösen Küstenhäuser als Hochzeitsgeschenk verpasst. Schließlich sollte der Erste Sohn einer Großen Alten Familie wenigstens standesgerecht leben, wenn er es schon nicht unter dem Dach seiner Vorväter tat. Und so hallte die Glocke noch mehrmals durch die weiten Räume, ehe ich, leise vor mich hin schimpfend, die Tür erreicht hatte und endlich unserem späten Besuch öffnen konnte. Der Besuch war nicht mein Großvater.

Vor unserer Tür stand eine kleine, rundliche Frau in einem reichbestickten, dunkelblauen Kleid und einem grauen Kapuzenumhang. Mir, dem neunjährigen Kind, kam sie uralt vor. So viele Runzeln und Falten durchzogen das breite Gesicht, dass keine Charaktereigenschaft es besonders gezeichnet zu haben schien. Ihr Haar, zu einer komplizierten Hochfrisur aus unzähligen Zöpfen aufgesteckt, war schneeweiß. In ihrer knochigen Hand hielt die Alte einen knorrigen Stab. Er war aus Holz, noch dazu aus dunklem Lkholz. Nichts auf Singis ist heiliger. In dem breiten Knauf, auf den die Fremde fast liebevoll ihre Hand gelegt hatte, war das Antlitz einer Frau eingeschnitzt, die eine Ährenkrone im geflochtenen Haar trug.

Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre vor der Alten auf die Knie gefallen. Ich wusste sehr wohl, wer und was sie war; zu oft hatte ich sie auf der Holographischen Wand gesehen und mir von meinem großen Bruder ihre Position erklären lassen müssen. Aber ich verstand beim besten Willen nicht, was sie hier vor unserer Haustür tat.

Ich wäre wohl bis ans Ende der Zeit dagestanden, hätte die Alte nicht ihre dunklen Augen zusammengekniffen und mit krächziger Stimme gefragt: „Hast du nun genug gesehen, Mynrichwy Neoly? Darf ich eintreten?“

Mein Name aus dem Mund der Alten holte mich aus meiner Erstarrung. Eilig murmelte ich eine Begrüßung, wobei mir siedendheiß einfiel, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich sie anzureden hatte; wahrscheinlich blamierte ich meine Familie gerade bis auf die Knochen. Doch die Alte lachte nur gackernd und rauschte an mir vorbei. Restlos verwirrt eilte ich ihr hinterher, um wieder zu ihr aufzuschließen und sie in die Empfangshalle zu führen. Dann huschte ich, so schnell ich konnte, zurück ins Familienzimmer.

„Nun, wer ist es?“, fragte mein Vater, als ich den Kopf zur Tür hineinstreckte. Ich schluckte, weil ich plötzlich befürchtete, er würde mir nicht glauben.

„Die … die Erste Dienerin der Lchnadra, Vater.“

Meinem kleinen Bruder fiel die Kinnlade herunter, aber sonst wirkte niemand auch nur im Entferntesten befremdet, dass das Oberhaupt des Ordens der Großen Göttin unserer kleinen Familie einen abendlichen Besuch abstattete. Vater legte bedächtig sein Werkzeug aus der Hand und tauschte einen Blick mit Mutter, der Bände sprach, auch wenn die in einer Sprache geschrieben waren, die ich nicht verstand. Vairrynn lächelte, und ein seltsames Glänzen war in seinen hellen Augen. Raubtieraugen haben wir Singisen laut den Terranern, und wann immer sich dieser Ausdruck in das Gesicht meines Bruders stahl, verstand ich ein wenig, warum sie das behaupteten.

„Dann wollen wir die Ehrwürdige nicht warten lassen“, meinte mein Vater mit schwerer Ironie in der Stimme, die ich heraushörte, aber nicht deuten konnte. Ich sehnte mich danach, mit Vairrynn zu reden, damit er mir erklären konnte, was das alles sollte, aber er folgte Vater und Mutter wie ein Schatten, und Mudmal und ich zuckelten hinterher, in nagender Neugier vereint.

Es dauerte eine Weile, bis wir die Erste Dienerin in dem Wald von Statuen fanden, die unsere Empfangshalle bevölkerten. Der weite Saal mit der hohen Decke, den filigran gravierten Säulen und geschliffenen Fenstern war eines Patriarchensohns durchaus würdig, ließ aber gleichzeitig keinen Zweifel an Eftnek Neolys Künstlertum. Die Erste Dienerin der Lchnadra stand vor einer Statue, die die Frau eines von Vaters Freunden darstellte, die kurze Zeit zuvor an dem Biss einer Kachta gestorben war. Ich hielt sie für eine von Vaters wehmütigsten Schöpfungen, eine durchscheinend zierliche Frau, die zusammengekauert auf einem bizarr geformten Felsen saß, das lange, aufgelöste Haar wie ein Schleier über dem Gesicht, mit bloßen Füßen und gekrümmten Zehen. Die Erste Dienerin betrachtete die Statue mit wiegendem Kopf.

„Wirklich, Eftnek“, sagte sie und schnalzte mit der Zunge. „Du wirst immer besser.“

Mein Vater verschränkte die Arme vor der Brust. „Was willst du?“

Die Alte kniff ein Auge zusammen und schielte zu ihm hinauf. Dann hob sie blitzschnell den Stab mit dem eingravierten Göttinnengesicht und rammte ihn meinem Vater auf den Fuß.

„Eftnek Neoly!“, krächzte sie. „Freu’ dich gefälligst, dass ich da bin!“

Ich weiß nicht, was mich mehr schockierte: der Umgang der Alten mit einer der kostbarsten Reliquien des Reiches oder mit meinem Vater. Frauen, die so mit einem Mann umsprangen, existierten in meinem Weltbild nicht.

„Also, was ist jetzt?“, fragte die Alte. „Wollen wir hier weiter rumstehen oder bietet ihr mir endlich eure Gastfreundschaft an? Wenigstens von dir hätte ich bessere Manieren erwartet, Lys. Du könntest mir zumindest meinen Mantel abnehmen, während dein Gatte hier dabei ist, seinen Fuß zu bedauern. Der soll froh sein, dass er den Stab nicht ganz woanders hingekriegt hat. So was von einer Unhöflichkeit! Hast du vergessen, wer ich bin, Junge?“

Und so kam Jorngiss, die Erste Dienerin der Lchnadra, über uns wie eine Naturgewalt.